Mag. Miriam Viktoria Celik
Psychotherapeutin
Verhaltenstherapie
Altmüttergasse 5/1,
1090 Wien
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praxis@psychotherapie-celik.at
2021-12-12
Dass Kinder im Entwicklungsprozess beginnen, die Verhaltensformen sich selbst gegenüber anzuwenden, welche zunächst andere ihnen gegenüber praktiziert haben, beschreibt Vygotskij als Interiorisierung.
Das Kind eignet sich somit selbst die gesellschaftlichen Verhaltensformen an und überträgt diese auf sich selbst. Das bedeutet, dass Beziehungen zwischen höheren psychischen Funktionen ursprünglich reale zwischenmenschliche Beziehungen waren. Man selbst verhält sich zu sich so, wie andere Menschen sich zu einem verhalten haben.
Alle höheren [psychischen] Funktionen sind interiorisierte Beziehungen sozialer Ordnung – und damit bilden sie die Grundlage der gesellschaftlichen Struktur des Individuums. Die Zusammensetzung der höheren psychischen Funktionen, die genetische Struktur, die Art und Weise wie sie sich äußert, mit einem Wort, die Natur dieser Funktion ist insgesamt sozial. Sogar nach ihrer Umwandlung in psychische Prozesse bleibt sie quasi-sozial. Der Mensch gibt, auch wenn er mit sich alleine ist, die Funktion der Verständigung nicht auf.
Der ursprüngliche wechselseitige psychische Prozess, welcher zwischen zwei Menschen aufgeteilt war, verlagert sich somit im Laufe der Entwicklung eines Menschen nach innen und wird zu einem internen psychischen Prozess. Somit verläuft für Vygotskij die Entwicklung nicht vom Individuellen zum Sozialisierten, sondern anders rum.
Psychische Prozesse, die einem Menschen zu einem späteren Zeitpunkt seiner Entwicklung autonom zur Verfügung stehen, waren vorangegangene Interaktionen zwischen ihm und seinen Bezugspersonen während eines früheren Zeitpunktes seines Lebens. Das bedeutet, dass der in dem Entwicklungsmodell individueller psychischer Vorgang im Wesentlichen eine internalisierte Form einer zuvor gelebten sozialen Beziehung ist, an der die Erlebens- und Verhaltensweisen der Anderen entscheidend beteiligt waren.
Leont ́ev formulierte dies wie folgt:
“Höhere psychische Prozesse, die für den Menschen typisch sind, können nur durch die Interaktion mit Anderen erworben werden, d.h. durch unterpsycho- logische Prozesse, die erst später vom Individuum zunehmend unabhängig ausgeführt werden. Wenn dies geschieht, verlieren manche dieser Prozesse ihre ursprüngliche äußerliche Form und werden in intrapsychologische Prozesse konvertiert (Leont ́ev, 1981, S. 56).”
Am Beispiel des Sprechens als höhere psychische Funktion hat Vygotskij die oben beschriebenen Annahmen untersucht. Kinder fangen an, Selbstgespräche zu führen, nachdem sie zuvor lernen, ein wenig mit der Mutter zu sprechen. Infolge der Interiorisierung entsteht dann das unausgesprochene Denken. Wird die Sprache als ein Aspekt eines allgemeinen zwischenmenschlichen Verständigungsprozesses interpretiert, muss im Rahmen seines Entwicklungsmodells und seinem Gesetz der Interiorisierung annehmen, dass höhere psychische Funktionen eines Menschen, sich selbst verstehen zu können, ein verinnerlichter Niederschlag von gemeinsamen Verständigungsprozessen ist, der im Rahmen bedeutsamer Beziehungen stattfand. Die im wei- teren Kapitel erwähnte Definition der Empathie als stellvertretende Introspektion von Kohus lässt sich aus diesem Grund umkehren und somit wäre die Introspektion als interiorisierte empathische Interaktion zu interpretieren.
Als Belege für Vygotskijs Entwicklungsgesetz können Beobachtungen wie das frühkindliche Imitationsverhalten, die Abstimmung von Vitalitätsaffekten zwischen Kind und Mutter und motorische als auch emotionale Spiegelungsprozesse gelten. Diese Vorgänge zeigen den Vorrang des Gemeinsamen und verdeutlichen den primären Stellenwert des Austauschs zwischen den Anderen und dem Selbst, aus dem heraus sich die höheren psychischen Funktionen des Selbst entwickeln. Viele Belege deuten darauf hin, dass sich Menschen, mit denen einfühlsam umgegangen wird, emphatischer verhalten. Ein Teil dieser Untersuchungen stehe im Kontext der Bin- dungstheorie. Diese zeigen, dass Personen mit einer sicheren Bindung sich leichter Anderen auf altruistische Weise zuwenden und dafür bereit sind, ihnen ohne egoistische Motivation zu helfen. Dies im Gegensatz zu Menschen mit ängstlich- ambivalentem oder ängstlich-vermeidendem Bindungsmuster.
Die Vermutung legt nahe, dass die Fähigkeit, sich in sich selbst einzufühlen und sich selbst zu verstehen, als Grundlage empathische Beziehungen hat. Wenn Menschen somit empathische Interaktionen mit Anderen erfahren und internalisieren, geben diese, auch wenn sie mit sich alleine sind, die Funktion der Verständigung nicht auf. Sondern sie machen diese als psychische Funktion zu eigen und treten nunmehr mit sich selbst in verständnisvollen Austausch, einen so genannten inneren Dialog. Auf gleichem Weg kann die wechselseitige Empathie in der therapeutischen Beziehung ihre Wirkung entfalten. Denn dort, wo Personen für sich selbst bisher kein Verständnis hatten und auch keine Erfahrungen verständnisvollen Austauschs internalisieren und sich aneignen konnten, kann eine therapeutische Beziehung einen gemeinsamen Prozess untereinander ermöglichen, der den Ausgangspunkt für eine nachfolgende Verinnerlichung bildet. Vygotskijs Theorie zufolge ist das, was interiorisiert wird, die Interaktion zwischen dem Anderen und dem Selbst.
Damit ist die gemeinsame Situation der intersubjektive Bewusstseinszustand – etwas, woran das Selbst von Anfang an beteiligt war. Das Selbst war somit bereits mit seinem noch eher niedrigen psychischen Funktionen beteiligt, welche sich folglich zunächst in der im persönlichen Kontext erlebten und dann interiorisierten Interaktion um das erweiterte, was in der Interaktion an neuen Austauschprozessen stattgefunden hat.
Anders formuliert:
“Die „Grenzen“ zwischen Menschen, die miteinander kommunizieren, sind be- reits durchlässig; es ist unmöglich festzustellen, „wessen“ Objekt es ist, auf das sich die gemeinsame Aufmerksamkeit richtet, oder „wessen“ Idee es war, die im Austausch entstanden ist. Jede individuelle Teilnahme an gemeinsamer Problemlösung oder Kommunikation ist bereits Teil eines überindividuellen Prozesses. Von gemeinsamen Denkprozessen zu profitieren, erfordert daher nicht, etwas von einem externen Modell zu übernehmen. Vielmehr funktioniert das Individuum, wenn es an einer sozialen Aktivität teilnimmt, schon auf Basis des gemeinsamen Verständnisses (Rogoff, 1990, S. 195).”
Die Entstehung höherer psychischer Funktionen, welche dadurch charakterisiert sind, dass sich in ihnen ein Mitsein niederschlägt, welches qualitativ besser, differenzierter und komplexer ist als das, was zuvor schon interiorisiert worden war, ist das Resultat dieses Prozesses. Es entsteht somit eine qualitative Veränderung in der Intersubjektivität der Person. Wird dieses erweiterte gegenseitige Verständnis später von der Person verinnerlicht, handelt es sich bei dem, was zur eigenen psychischen Funktion wird, um etwas im vornherein Mitgeschaffenes, das die eigenen Möglichkeiten sowohl differenziert als auch erweitert und zugleich die Kontinuität der eigenen Entwicklung gewährleistet.
Im psychotherapeutischen Kontext würde das bedeuten, dass nur wenn zwischen Therapeut:innen und Patient:innen ein empathischer Austausch gelingt, welcher über die Qualität des bisherigen Selbstverständnisses der Patient:innen hinausgeht, die Entstehung eines höheren psychischen Funktionsniveaus zu erwarten ist. Sich in sich selbst hinein zu fühlen, hat empathische In- teraktionen zur Grundlage und dient folglich dazu, selbst Empathie dem Anderen gegenüber empfinden zu können. Wenn am fehlenden frühkindlichen Imitationsverhalten der Austausch zwischen dem Anderen und dem Selbst nicht ausreichend stattfindet und somit Einfluss auf die eigene Empathiefähigkeit haben kann, kann vermutet werden, dass durch immer wiederkehrende empathische Interaktionen dem entgegengewirkt werden kann. Somit liegt die Annahme nahe, dass bei Psychotherapeut:innen in Ausbildung die Empathiefähigkeit gefördert werden kann, indem ein regelmäßiger empathischer Austausch und eine empathische Beziehung gegeben wird.
Miriam - 12:46:49 @ Pädagogik, Kinder, Wissenschaftliches | Kommentar hinzufügen
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